INTERVIEW: JOSHUA OPPENHEIMEREin Werkstattgespräch mit Joshua Oppenheimer über sein aktuelles Musical THE END (2024), seine Dokumentarfilme THE ACT OF KILLING (2012) und THE LOOK OF SILENCE (2014), und seine Philosophie des Filmemachens.von
Gordon Dohle GORDON DOHLE Vielleicht fangen wir mit der Genese deines aktuellen Films an. Wie kam es dazu, dass du nach deinem dokumentarischen Diptychon über den Genozid in Indonesien (THE ACT OF KILLING und THE LOOK OF SILENCE) das postapokalyptische Musical THE END gedreht hast, in dem es um eine wohlhabende Familie geht, die fünfundzwanzig Jahre nach dem Weltuntergang, an dem sie nicht unschuldig ist, in einem unterirdischen Bunker lebt?
JOSHUA OPPENHEIMER Alle meine bisherigen Filme sind Reflexionen über das Erzählen von Geschichten. Darüber, wie wir Geschichten nutzen, nicht etwa, um die Welt klarer zu sehen, sondern, um sie vor uns selbst zu verbergen und wie wir uns dadurch vor uns selbst verbergen. Wie wir uns Ausreden zurechtlegen für Missetaten, die wir uns selbst erstaunlicherweise glauben, obwohl wir wissen, dass sie falsch sind. Diese Fähigkeit uns selbst zu belügen, ist unsere tragische menschliche Schwäche, weil die Selbsttäuschung gravierende Folgen für uns hat. Mir ist auch klargeworden, dass alle meine Filme postapokalyptisch sind. Die Dokumentarfilme stellen eine Kontinuität her zwischen der Gewalt und Grausamkeit des Genozids, einer Art Apokalypse für diese Gesellschaft, und den Nachwirkungen, dem straflos davongekommenen Regime der Täter. Genauso, wie das Musical eine Kontinuität zwischen den destruktiven Dynamiken unserer Gegenwart und dem Leben im Bunker nach dem ökologischen Kollaps und dem fast gänzlichen Aussterben der Menschheit herstellt. Etymologisch bedeutet das griechische Wort „Apokalypse“ Enthüllung oder Offenbarung. Die Apokalypse in der Bibel heißt daher auch „Die Offenbarung des Johannes“. Nicht etwa, weil diese Schrift das Ende beschreibt, sondern die Offenbarung des Endes. Und wir sind die allerersten Menschen, denen durch die Wissenschaft offenbart wurde, wie wir aussterben werden, wenn wir so weitermachen. Wir leben also bereits nach der Apokalypse. Meine Geschichte über das Ende der Welt ist eine Allegorie der Gegenwart. Denn die gegenwärtige kapitalistische Konsumkultur birgt das Ende bereits in sich. In Indonesien wurde diese Konsumkultur auf dem apokalyptischen Genozid aufgebaut – die ehemaligen Anführer der Todeskommandos streifen jetzt durch die Shopping Malls. Armageddon hat dort schon stattgefunden. Und umgekehrt birgt unsere Konsumkultur ein zukünftiges Armageddon. Nach THE ACT OF KILLING und THE LOOK OF SILENCE wollte ich ursprünglich einen dritten Film in Indonesien drehen über die Oligarchen, die sich durch die Ausbeutung ihres Landes problemlos bereichern konnten, weil man Angst vor ihnen hatte. Wegen der Morddrohungen war es aber unmöglich für mich wieder einzureisen. Also weitete ich meine Suche nach einem Oligarchen auf Zentralasien aus und fand einen, der sich gewaltsam seine Erdöl-Bohrrechte gesichert hat. Er lud mich schließlich ein gemeinsam mit seiner Familie einen Bunker zu besichtigen, den er kaufen wollte. Auf dem Weg zu diesem Bunker telefonierte seine Frau die ganze Zeit mit ihrer Schwester, die gerade ein Baby bekommen hatte. Aber als ich sie bei unserer Ankunft fragte, ob ihre Schwester auch hier einziehen würde, verneinte sie. Und da stellten sich mir all diese faszinierenden, universellen Fragen: Wie würde sie nach dem Verrat, nach dem Zurücklassen ihrer Angehörigen, mit den Gewissensbissen umgehen? Wie würde ihr Mann mit der Schuld für die Katastrophe umgehen, die er mitverursacht hätte? Und wie würden die beiden eine neue Generation großziehen ohne ihre Reue zu offenbaren?
GD Diese Fragen konntest du aber nicht stellen.
JO Genau, weil der Bunker ja eine physische Manifestation ihrer Verleugnung war. Dann wurde mir klar, dass mich jetzt nur noch ein Fly-on-the-Wall-Dokumentarfilm fünfundzwanzig Jahre nach dem Einzug dieser Familie in den Bunker interessieren würde, um diese Fragen zu beantworten. Als ich kurz darauf einen meiner Lieblingsfilme, THE UMBRELLAS OF CHERBOURG von Jacques Demy, schaute, stellte ich eine Verbindung her zwischen dem Bunker als Manifestation der Verleugnung und dem Musical als Genre der Verleugnung. So kam die Idee für THE END zustande. Ich wusste, dass es eine US-amerikanische Familie sein würde, weil das Golden-Age-Musical ein US-amerikanisches Genre ist, das in Wirklichkeit nicht optimistisch ist, sondern wie der Wolf der Verzweiflung im Schafspelz der Hoffnung daherkommt, weil es einem tiefen Gefühl der Machtlosigkeit entspringt angesichts von Rassentrennung, Holocaust, globaler wirtschaftlicher Depression und dann des Beginns des Atomzeitalters.
GD Das Musical ist also im Grunde das Genre der
Verleugnung und des Eskapismus. Wie hast du durch Subversion versucht das zu ändern, damit es zur Narration und zum Thema passt?
JO Ich habe versucht mir das Prinzip klarzumachen, das vorgibt, aus welchen Gründen die Figuren singen. Und schnell wurde mir klar, dass es eine Umkehrung des Klischees in Golden-Age-Musicals sein muss, dass die Figuren singen, wenn ihre Wahrheit zu groß ist, um sie auszusprechen. Ich wollte anerkennen, dass das Genre immer schon Täuschung enthielt und die Wahrheit darin nie wirklich wahr war. Deshalb singen meine Figuren, um sich von neuen Täuschungen, Lügen und Fantasien zu überzeugen. Darin steckt jedoch auch eine Sehnsucht, die eine Art verbotene Wahrheit in den Bunker bringt, denn die Familie redet sich ein, dass sie alles haben. Die Sehnsucht aber bedeutet, dass etwas fehlt. Es sind also die Krisen und die Zweifel, die sie durch das Singen zu verdrängen suchen, um morgens aufstehen, in den Spiegel sehen und ihr Leben weiterführen zu können. Allerdings ohne sich selbst und die Situation wirklich zu sehen, damit sie nicht der Verzweiflung erliegen. Als das Rationalisieren der Figuren nicht mehr funktioniert, romantisieren sie eben. So verleiht die Musik den wunderschönen, glänzenden Lügen Ausdruck, birgt aber gleichzeitig starke emotionale Strömungen, Untertöne und Kontrapunkte, die sie wie ein Sog oder Mahlstrom zur Wahrheit hinziehen. Die Melodien und Ausreden fangen an sich aufzulösen und die Figuren stoßen auf eine Mauer des Schweigens. Einen Moment lang können sie nicht singen – und genau dort befindet sich die Wahrheit.
Das singende Ensemble in THE END. © Mubi/Felix Dickinson GD Sie singen also, um die Stille und die Wahrheit zu überwinden, die eine omnipräsente Bedrohung sind. In der Tonbearbeitung von THE LOOK OF SILENCE hast du alle störenden Hintergrundgeräusche entfernt und sechzehn verschiedene Tonspuren zirpender Grillen über die Landschaftsaufnahmen gelegt, die wie Instrumente in einer Symphonie zu einem Chor von Geistern werden. Die Geister in THE END sind stumm. Es gibt keine Grillen mehr.
JO Ja, es gibt keine Grillen mehr. (lacht) Das ist sehr schön formuliert. Die Musikstücke erheben sich aus dem Abgrund der Stille und Bedeutungslosigkeit in Richtung einer fantastischen Geschichte, in der das Leben der Figuren ideal ist. Das beste Leben überhaupt! Ungewollt werden sie so in eine Konfrontation mit der Wahrheit hineingezogen. Deshalb verlassen sie die komfortabel eingerichteten Räume im Bunker mit den romantischen Landschaftsgemälden an den Wänden, die als Fenster zur verlorenen Natur fungieren, die es in Wirklichkeit nie gegeben hat, weil sie ebenso wie die Musik eine idealisierte Lüge sind. Aus den Räumen der Worte, der Kunst und der Musik, die eine ekstatische Wahrheit und Schönheit in sich tragen, werden sie in die stillen Höhlen der Salzmine transportiert, in der sich der Bunker befindet. Diese Stille kann erstickend und erschreckend sein, zum Beispiel wenn eine Figur stirbt. Danach gibt es keine sechzehn Tonspuren mit Grillen, die die Geister verkörpern. Im Gegensatz zu den Landschaften in THE LOOK OF SILENCE, wo die Geister sich noch da draußen herumtreiben, herrscht hier eine brutalere und unheimlichere Stille, weil sie von Tod und Auslöschung zeugt. Daneben gibt es Momente, in denen die Stille und die Leere einen Raum der wahrhaftigen Möglichkeit schaffen. Wir leben zwar nach der Apokalypse, – also nach dem Ende der Welt und nach der Offenbarung, dass wir aussterben werden, wenn wir weitermachen wie bisher – aber es ist noch möglich, dass das Leben voller Bedeutung und Hoffnung ist, wenn wir aufrichtig und ehrlich leben.
GD Überlebende und Eindringling „Mädchen“ (Die Figuren in THE END sind namenlos), gespielt von Moses Ingram, bringt dieses Geschenk der emotionalen Ehrlichkeit und der neuen Möglichkeiten mit in den Bunker. Im Gegensatz dazu ist „Vater“, gespielt von Michael Shannon, sehr gut darin, sich selbst zu belügen und hat daher eine große Kapazität dafür Böses zu tun: „Andere Öl-Unternehmen waren auch schlecht…, wenn ich es nicht getan hätte, dann hätte es jemand anderes getan…“. Liegt die Ursache für dieses Verhalten im kapitalistischen System, dem wir ausgesetzt sind, oder in einem Mangel an Sinn und Tiefe in seinem eigenen Leben? Er erinnert mich sehr an Hannah Arendts Begriff „Die Banalität des Bösen“.
JO Weil er so gut darin ist, sich selbst zu belügen, hat er eine große Kapazität dafür Böses zu tun. Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Denn fast die gesamte Tradition von Film, Fernsehen und der modernen Massenmedien erzählt uns, dass die Welt in „good guys“ und „bad guys“ unterteilt ist. Und, dass wir selbst in „good guys“ und „bad guys“ unterteilt sind. Hier ein kleiner Engel und da ein kleiner Teufel. Und in einer solchen Welt gibt es nur eine Art Machtkampf zwischen Gut und Böse. Man braucht keine Selbsttäuschung. Man braucht nur den Teufel, der einen zum Bösen verführt. Eine böse Tat stammt also vom bösen Teil in uns selbst. Und das ist eine Lüge! Es ist eine beruhigende Lüge, denn so sind wir Menschen nicht. Wenn wir aber solche Geschichten vorgesetzt bekommen, dann identifizieren wir uns nicht mit den Bösen, sondern mit den Guten, klopfen uns dafür auf die Schulter und bleiben untätig – selbst angesichts von moralischen oder politischen Katastrophen. Warum muss „Vater“ sich selbst belügen? Weil er ein machiavellistisches Monster ist und es genießt, Böses zu tun? Nein. Er tut es, weil er weiß, dass er ein Unrecht begangen hat und es nicht ertragen kann. Und deshalb sucht er nach Ausreden, Rationalisierungen und alternativen Versionen der Vergangenheit, um sie zu revidieren. Das bedeutet also, dass bösen Taten nicht etwa Amoral zugrunde liegt, sondern Moral. Nach dieser Logik ist man im Unrecht gefangen und muss weiter Böses tun oder zugeben, dass es falsch war. Das habe ich während der Dreharbeiten zu THE ACT OF KILLING auf eine sehr verstörende Art und Weise gelernt. Es gibt eine Szene, die es nie in den Film geschafft hat, ihn aber in seiner Gesamtheit auf den Punkt bringt: Anwar Congo (Protagonist und ehemaliger Anführer eines Todeskommandos) erzählte mir die Geschichte, wie er zum ersten Mal gebeten wurde jemanden zu töten. Als er in der Nacht nach dem Mord nach Hause kam, fühlte er sich elend. Am nächsten Tag beruhigten ihn alle, die in der Befehlskette über ihm standen, und sagten ihm, dass er ein Held sei, der das Land vor dem Kommunismus rette. Da fühlte er sich etwas besser. Als ihm gesagt wurde, dass es im Nebenraum zwei weitere Menschen gibt, die er töten soll, stand er vor einer schrecklichen Entscheidung: Mache ich es aus den eben genannten Gründen oder lehne ich es ab und gebe damit zu, dass es beim ersten Mal falsch war? Ich hoffe, dass ich in dieser Situation nein sagen würde, selbst wenn ich schon einmal getötet hätte, aber ich habe großes Glück, dass ich das nie herausfinden muss. Die Familie in THE END befindet sich in einem ebensolchen Dilemma, als „Mädchen“ ankommt. „Mutter“ sagt, dass sie wieder hinausgeworfen werden muss, um eine Grenze zu ziehen. Sie kann diesen Satz im Film nicht beenden: „Wenn wir sie bleiben lassen–“. Aber es ist klar, was sie sagen möchte: „… dann habe ich meine Familie getötet.“
Tilda Swinton als „Mutter“ in THE END. © Mubi/Felix Dickinson GD Kannst du sagen, was wahrhaftiger oder authentischer ist – Tilda Swinton („Mutter“), eine brillante, professionelle Schauspielerin, die sich ihre Emotionen zunutze macht, um einen beabsichtigten, vielleicht auch überraschenden Moment hervorzubringen oder Anwar Congo, ein Laie, der vor die Kamera tritt und dabei einen Spalt offenbart zwischen der Art und Weise, wie er gesehen werden möchte und wie er sich selbst sieht?
JO Ich denke, dass beide zutiefst wahrhaftig und authentisch sind. Um den Spalt sichtbar zu machen zwischen dem, was Anwar der Kamera zeigen wollte und wie er sich in Wirklichkeit selbst sieht, habe ich mit ihm zusammengearbeitet. Wir haben Situationen kreiert, die diese Diskrepanz verstärken und den Spalt vergrößern. Seine Selbsttäuschung in Bezug auf das Trauma des wiederholten Tötens resultierte darin, dass er mit seinen Gräueltaten auch noch angab. Und dieselbe Selbsttäuschung in Bezug auf das Trauma der endlosen Fortsetzung von destruktiven Verhaltensweisen, die uns nur näher an den Abgrund und das Aussterben bringen, liegt THE END zugrunde. Und das ist universell und uns allen und erst recht einer Künstlerin wie Tilda dank ihrer Vorstellungskraft zugänglich.
GD Das Ende von THE ACT OF KILLING kam für dich überraschend: Nachdem Anwar sich, wie eben von dir beschrieben, ständig mit seinen Taten brüstete, musste er bei einer Rückkehr auf das Dach, auf dem er viele Menschen getötet hat, plötzlich würgen, als ob sein Körper seine Worte endlich physisch abstoßen würde. Das Ende von THE END hingegen musstest du selbst gestalten. War es von Anfang an da oder hat es dich auch überrascht?
JO Meiner Erfahrung nach – und ich habe erst einen fiktionalen Film gedreht – stößt man bei jedem Schritt des langen Prozesses einen Film zu machen auf Momente, die einen zum Staunen bringen, weil sie nicht das sind, was man erwartet hat. Und genau deshalb weiß man, dass sie wahr sind. Das gilt für die Ideenfindung, die Figurenskizzen, das erste Drehbuch, all die nächsten Fassungen, die Musikstücke, die Proben und die Takes, bevor man im Schnitt schließlich den Film findet. Und so war ich auch überrascht, als mir das Ende für THE END einfiel. Genau wie bei der Szene auf dem Dach in THE ACT OF KILLING. Ich hielt damals gerade das Mikrofon in der Hand und wollte es am liebsten fallen lassen, Anwar einen Arm um die Schulter legen und ihn fragen, ob es ihm gut geht. Und dann realisierte ich, dass es ihm offensichtlich nicht gut ging. So sieht jemand aus, dem es ganz und gar nicht gut geht. Ich konnte diesen unfassbaren Moment nicht weiter befragen, bis ich versucht habe eine subtilere und weniger klimaktische Version davon mit Michael („Vater“) zu drehen, als er realisiert, dass er schuldig ist. Seine körperliche Reaktion ist eine Art tierisches Wimmern. Ist dieses Geräusch nun wahrer oder authentischer als Anwars Würgen? Wenn Michael Anwars Würgen imitiert hätte, dann wäre das falsch und weniger wahrhaftig gewesen.
Michael Shannon als „Vater“ in THE END. © Mubi/Felix Dickinson GD Eine Figur, die auf der Suche nach der Wahrheit ist, ist „Sohn“, gespielt von George MacKay. Er wurde im Bunker geboren und in Platons Höhle großgezogen. Er ist eine Art leere Leinwand, tabula rasa, wodurch die Eltern ihn mit ihren Erzählungen füttern können. Was daran universell und leicht nachzuempfinden ist, ist seine Idealisierung der Eltern, die als Coming-Of-Age-Trope in Zweifel und Desillusionierung umschlägt. Wie viel von deiner eigenen Erfahrung steckt als Scheidungskind in der Figur „Sohn“?
JO Sehr viel. George war dabei, als mein Vater den Film zum ersten Mal sah und danach sagte er zu ihm: „Mein Gott, George, du hast meinen Sohn wirklich studiert!“. Und es war rührend für mich, dass mein Vater das anerkennen konnte, ohne dass es ihm peinlich war oder er sich schämte. Georges Darstellung ist wahnsinnig körperlich und präzise. Er reagiert auf jedes Fitzelchen verbotene Wahrheit, das in den Bunker aus Lügen eindringt, den die ältere Generation als Pakt untereinander geschaffen hat, weil es Geheimnisse der Einzelnen gibt, die sie nicht an „Sohn“ weitergeben wollen. Jeder führt also im Interesse der anderen etwas für ein Publikum auf, das aus einer Person besteht: „Sohn“. Die Wahrheit hat sich aber trotzdem durchgesetzt und „Sohn“ glaubt nicht alles, was er hört, allein schon, weil die Geschichten der verschiedenen älteren Menschen sich widersprechen müssen. George braucht die Wahrheit, um nach dem Tod der anderen ein auch nur annähernd erträgliches, geschweige denn gutes Leben führen zu können. Deshalb hat er eine Art Radar für die Wahrheit entwickelt. George hat ein kleines Zucken in einem Muskel unter seinem linken Auge, das er nicht kontrollieren kann, das aber genau im richtigen Moment zuckt, weil er als Schauspieler so hart und systematisch daran gearbeitet hat, sein Innenleben zu verkörpern und so zu trainieren, dass es auf die Wahrheit reagiert. Er ist also in der Lage, etwas Authentisches zu erkennen, weiß aber, dass er es zum Beispiel aus echter Liebe zu „Vater“ verbergen und unterdrücken muss, um ihn nicht zu verletzen. Und ich glaube in diesem Akt des Verdrängens, indem ich meinen Eltern das erzähle, was sie hören wollen, steckt eine Menge von mir.
GD Wie viel von dir und wie viel von Rasmus Heisterberg steckt im Drehbuch? Was hast du von ihm gelernt?
JO Er brachte eine unfassbare Ehrlichkeit in unsere Gespräche ein, die es uns ermöglichte, sehr nuancierte Figuren zu entwerfen. Ich habe von ihm gelernt, wie wichtig es ist, dass eine Figur am Anfang glaubt etwas zu wollen und das, was sie wirklich braucht, unterdrückt, bis sie es im Laufe der Handlung herausfindet. Das hat mir die Augen geöffnet, weil es in meinen Dokumentarfilmen eben genau dieser Spalt ist, zwischen dem, wie jemand gesehen werden will und wie derjenige sich wirklich sieht, der mich fasziniert. Das tiefere Bedürfnis einer mehrdimensionalen Figur besteht oft darin zu akzeptieren oder zu ändern, wie sie sich selbst sieht, anstatt es weiterhin zu leugnen. Und Rasmus hat mir gezeigt, dass es das Überarbeiten ist, was das Drehbuch ausmacht. Du kannst ein Drehbuch voller lebhafter Fantasie, Spaß und Energie haben, aber es wird nie großartig sein, wenn es nicht mehrmals umgeschrieben wurde.
GD Was hat dir dein Mentor Dušan Makavejev ganz am Anfang deiner Karriere mitgegeben?
JO Dušan gab mir das Geschenk der ästhetischen und artistischen Befreiung.
GD Werner Herzog nannte THE ACT OF KILLING „beispiellos und einmalig in der Geschichte des Films“. Errol Morris nannte den Film scherzhaft „Genocide – The Musical“ und hat damit THE END gewissermaßen vorweggenommen. Hast du das Gefühl, dass dir das das nötige Selbstvertrauen gegeben hat und du jetzt auf den Schultern von Riesen stehst?
JO Als THE LOOK OF SILENCE herauskam, sagte Werner, dass ich als nächstes einen Spielfilm machen sollte. Ich weigerte mich, weil ich mich damals noch mit den Oligarchen beschäftigte, die mich schließlich doch zu THE END führten. Die Wertschätzung und Ermutigung von Werner und Errol haben mir sicher geholfen. Ich würde aber lügen, wenn ich behaupten würde, dass meine absurde Zuversicht, den Dreh eines solchen Films überhaupt vorzuschlagen, nicht aus mir selbst heraus kommen würde. Was mir Selbstvertrauen in Bezug auf THE END gegeben hat, war die Tatsache, dass Werner das Drehbuch las, es liebte und seinen achtzigsten Geburtstag, wirklich seinen achtzigsten Geburtstag, in seinem Garten damit verbrachte das Budget zu durchforsten, um gemeinsam mit dem Herstellungsleiter aus LA zu prüfen, wo wir noch Geld sparen könnten, weil die Inflation den Film zu diesem Zeitpunkt unmöglich zu machen schien. Sein Wille, seine Liebe und sein Engagement waren unglaublich und haben mir Mut gemacht, als ich Angst hatte, weil das Projekt zu scheitern drohte.
Einer der Täter in THE LOOK OF SILENCE. © Final Cut For Real/Lars SkreeGD Als Filmemacher bist du auf der Suche nach der Wahrheit, weil du in der Tradition des Cinema Vérité stehst, das von Dziga Vertovs Kino-Pravda inspiriert und von Jean Rouch entwickelt wurde. Ein Aspekt dieser Filmtheorie ist ein Zustand, den er Ciné-Trance nennt: Die Transformation des Filmemachers in ein mechanisches Auge und das subjektive Eintauchen in den Moment des Filmens, in dem etwas entsteht, das es ohne diesen Akt nie gegeben hätte. In THE ACT OF KILLING spricht Anwar auch von einer Art Trance: Seine Kinobesuche haben ihn ganz in den Bann gezogen und danach hat er immer „mit Freude“ und inspiriert von den Methoden Hollywoods getötet. Indem du diese Verbrechen durch das Prisma des Film Noirs, Westerns oder Musicals mit ihm nachgestellt und ihm die Ergebnisse gezeigt hast, hast du seinen phantasmagorischen Abwehrmechanismus durchbrochen. Der Bildschirm hat es realer für ihn werden lassen als die Taten selbst. Glaubst du, dass das die wahre Stärke des Kinos ist? Dass es uns nicht nur hypnotisieren und ablenken kann, sondern auch die Realität widerspiegelt und die Wahrheit offenlegt, indem es unsere Emotionen anspricht und ein Signifikant sein kann, um uns selbst und die Welt zu verstehen?
JO Es gibt zwei Möglichkeiten der Wahrheit nachzugehen. Einerseits kann man durch ein Teleskop oder ein Fernglas schauen, um etwas zu finden, von dem man vorher nicht wusste, dass es da war, um es zu beleuchten. Andererseits kann man ein Selbstporträt anfertigen oder in den Spiegel sehen. Deshalb sind Spiegel ein so wichtiger Teil meiner Arbeit und besonders in THE ACT OF KILLING fungieren die Bildschirme auch als Spiegel, in denen die Charaktere sich selbst sehen. Das erzeugt alle möglichen Verdopplungseffekte. Ich zeige Anwar das Material, um zu sehen, was er im Spiegel des Materials sehen wird. In THE END spielen Porträts eine große Rolle. Es gibt eine Szene, in der „Mutter“ ein Gemälde betrachtet und sagt: „Ich wünschte, wir hätten ein anderes Bild dieses Künstlers mitgebracht, denn das da starrt mich immer an“. Und das Porträt sieht ein wenig aus wie sie selbst. Auch einige Songs, wie die Eröffnungsnummer und das Finale, sind kollektive Selbstporträts, die die Figuren durch ihren Gesang kreieren. „Mutters“ Song „The Mirror“ führt sie in einem Raum voller Spiegel auf. Ebenso beginnt „Sohns“ Song „Son“ mit einem Blick in den Spiegel, endet dann aber in der Salzmine. In beiden Fällen handelt es sich um einen gescheiterten Versuch, ein Selbstporträt zu erschaffen, das sie nicht heimsucht und verstört. Jean Rouch hat damit angefangen Selbstporträts und die menschliche Vorstellungskraft zu untersuchen. Wenn man über CHRONIQUE D`UN ÉTÉ und LES MAÎTRES FOUS hinaus Filme wie MOI, UN NOIR oder JAGUAR anschaut, erkennt man, dass er Menschen filmt, ihnen das Filmmaterial zeigt und sie es kommentieren lässt. Sie beschreiben, was sie im Moment der Begegnung mit sich selbst sehen und offenbaren dadurch den bereits angesprochenen Spalt zwischen den Geschichten, den Genres ihrer eigenen Selbstidealisierung (wie sie gesehen werden wollen) und ihres Selbstverständnisses (wie sie sich wirklich sehen). Und das ist der Keim der Methode, die mich zu THE ACT OF KILLING geführt hat und zu der Szene auf dem Dach, in der ich ihn einfach erzählen ließ. Dann zeigte ich Anwar und seinem Kumpel Herman Koto einige seiner früheren Lieblingsfilme, die wir seiner Meinung nach relativ simpel zu einer „Genozid-Version“ adaptieren könnten. Einer davon war SAMSON AND DELILAH. Anwar wollte natürlich Samson spielen, deshalb musste Herman Delilah sein und lief die ganze Zeit in seinem Drag-Kostüm herum. All das entstand aus dem Versuch heraus mithilfe des Kinos nicht nur unser äußeres Handeln sichtbar zu machen, sondern auch unsere inneren Vorstellungen über uns selbst. Und die Wahrheit des menschlichen Verhaltens können wir nicht verstehen, wenn wir nicht bedenken, dass es oft ein Ausdruck unserer abwehrenden, schambesetzten oder verängstigten Reaktion auf unsere Selbstvorstellung ist.
Anwar Congo (rechts) in THE ACT OF KILLING. © Final Cut For Real/Anonymer indonesischer FotografGD Du bist also immer auf der Suche nach dem Spalt und du nutzt das Kino, um das menschliche Dasein und Bewusstsein zu erforschen. Würdest du sagen, dass es ein Versuch ist Freuds verborgene, unterdrückte und unbewusste Kräfte sichtbar zu machen, die das menschliche Verhalten steuern und daher unsere Realität formen?
JO Ich glaube, dass ein totalisierender Versuch, ein endgültiges Prinzip, das menschliche Motive und Handlungen erklärt, mich nicht überzeugt. Wenn ich davon überzeugt wäre, würde ich vielleicht meine Faszination für diese Fragen verlieren. Was das Bewusstsein motiviert und antreibt von einem Gedanken zum nächsten, von einem Bild zum nächsten, von einer Ablenkung zur nächsten, zu gleiten, ist etwas zutiefst Geheimnisvolles. Wenn wir über Psychologie reden, dann steckt, denke ich, etwas in Lacans Idee des Mangels, die in gewisser Weise auch in Deleuzes L’Anti-Œdipe (Capitalisme et schizophrénie) auftaucht.
GD Kannst du mehr darüber sagen?
JO Wir werden von dieser Art des inhärenten Mangels – ich glaube, das ist dem gesamten poststrukturalistischen Denken gemein – von einer Verbindung zur nächsten und zur nächsten und zur nächsten gezogen. Das leugnen wir aber, indem wir versuchen diesem Prozess eine Art molare Ordnung (im Gegensatz zur molekularen) aufzuerlegen, denn sonst würden wir zwar die ungeschminkte Wahrheit sehen, aber verrückt werden. Deshalb versuchen wir die Kontrolle zurückzuerlangen, indem wir uns neu erfinden mithilfe von letztendlich fiktiven, chimärenhaften, vergänglichen Formen, die wir uns als beständig vorzustellen versuchen. Aber warum zur Hölle du und ich und dieser Ort hier aus Energie besteht, die sich als Materie manifestiert – keine Ahnung! Ich denke, dass du bewusst bist, aber da du du bist, denkst du, dass ich bewusst bin, und selbst das ist nur eine Annahme, aber wenn ich du bin und in dir drin, dann kann ich durch diese zwei blauen Augen mich sehen und warum du überhaupt an dem interessiert bist, was ich sage und was ich in dir hervorrufe – mein Gott – keine Ahnung! Und ich glaube das ist es, was ich beim Filmemachen nutze. Mithilfe von Bildern und Tönen erforsche ich meine Faszination für die Natur der Wahrnehmung und Erfahrung. Und Film bietet eine kleine Chance, um eine Erfahrung für jemand anderen zu gestalten.
GD Weil du gerade Deleuze erwähnt hast, will ich dir ein Zitat zeigen, an das ich bei deinen Filmen oft denken muss: „[Es] gibt […] keine Gegenwart, die nicht von einer Vergangenheit und einer Zukunft heimgesucht wird: einer Vergangenheit, die sich nicht auf eine frühere Gegenwart reduziert, und einer Zukunft, die nicht aus einer zukünftigen Gegenwart besteht. Die einfache Sukzession affiziert die vorübergehende Gegenwart, aber jede Gegenwart koexistiert mit einer Vergangenheit und einer Zukunft, ohne die sie selbst gar nicht vorübergehen könnte. Es gehört zum Film, diese Vergangenheit und diese Zukunft zu erfassen, die mit dem gegenwärtigen Bild koexistieren“.
[1]JO Das ist sehr interessant. (lacht) Faulkner hat gesagt, dass die Vergangenheit nicht tot ist. Sie ist nicht einmal vergangen. Darüber denke ich oft nach. Wir sind unsere Vergangenheiten. Wir überarbeiten und beschönigen sie, damit wir leichter damit leben können. Die Welt ist die Vergangenheit. Und die Zukunft ist noch nicht da. Das denken wir zumindest. Und die Gegenwart existiert nicht wirklich, weil sie unendlich flüchtig ist, eigentlich substanzlos. Sie ist nur eine Art Horizont zwischen Vergangenheit und Zukunft, also ein Moment der reinen Möglichkeit. Ich bin von Natur aus optimistisch, weil ich an die Möglichkeit glaube, die diesem nichtexistierenden, substanzlosen Moment innewohnt, der gleichzeitig alles ist, was es gibt, was wir haben, worin wir uns immer befinden, aus dem alles Neue hervorgeht. Alles Neue geht hervor aus dieser Matrix der Möglichkeit, die konditioniert ist von der Vergangenheit, und Gegenwart heißt.
GD Um bei der Gegenwart zu bleiben: Dein Partner ist aus Japan und praktiziert Zen-Buddhismus. Helfen dir das Meditieren, das Ausrichten der Aufmerksamkeit auf die Gegenwart, buddhistische Prinzipien wie das Nicht-Anhaften, achtsames Selbstmitgefühl und vielleicht sogar das Vergegenwärtigen des eigenen Todes dabei dich als Künstler mit deinen schmerzhaftesten inneren Wahrheiten zu konfrontieren?
JO Oh ja, beim Meditieren fokussiere ich mich oft auf meinen eigenen Tod. Ich befinde mich gerade in der Postproduktion eines mittellangen Films über das Vergegenwärtigen des Todes und über Todesangst und darüber, wie das Verdrängen des Todes eine Art Verrat am Leben ist.
GD Ist es ein Essayfilm?
JO Ja, genau. Es wird ein traumartiger Dokumentarfilm. Um aber auf die Frage zurückzukommen: Mein Partner Shu ist eine große Stütze für mich. Er hilft mir beim Akzeptieren von unausweichlichen Wahrheiten. Vor Kurzem hat er mir ein Mantra beigebracht, das man in etwa so übersetzen könnte: „Es liegt in meiner Natur alt zu werden. Es liegt in meiner Natur krank zu werden. Es liegt in meiner Natur zu sterben. Es liegt in meiner Natur die Menschen zu verlieren, die ich liebe. Wie also soll ich leben?“. Wenn ich diese Frage benutze, um zu meditieren, finde ich die Antwort darin, ein ekstatisches Gefühl, eine Art reine, fast physische Energie des Seins in dieser mysteriösen Gegenwart zu spüren, die sich entfaltet. Was mir den Mut gab in Indonesien diese schwierigen Dinge zu konfrontieren, an den Rand des Abgrunds zu gehen und wie ein Forscher mit diesen schrecklichen Wahrheiten über uns alle zurückzukehren, weiß ich nicht. Aber danach wollte ich keinen Film mehr über die Oligarchenfamilie aus Zentralasien machen oder über das oberste „Nullkommaeins-Prozent“ oder über etwas, bei dem man durch ein Fernglas schauen oder eine Reise machen muss. Ich wollte nach innen schauen, um eine allegorisch überhöhte, vergrößerte Version davon zu enthüllen, wie wir uns alle in kleine Bunker verkriechen und uns von unserer wahren Natur des Menschseins ablenken. Was ich jetzt sagen werde, ist von großer politischer, ethischer und moralischer Bedeutung: Diese kleinen Bunker definieren auch die Grenzen unserer Empathie. Ich sehe meine Arbeit nicht als einen Akt des Mutes, sondern als einen Akt des Überlebens. Die Arbeit macht das Leben, die Grausamkeit, die ich um mich herum sehe und den Schmerz, das Mobbing, das ich erfahren habe, erträglich. Wenn ich mir ehrlich und unnachgiebig anschaue, wie wir Menschen sind, dann macht es das Leben für mich erträglich. Und es ist nicht so, dass wir dafür besonderen Mut oder Schutz brauchen. Ich muss keinen Schutzanzug anziehen, um zu arbeiten. Im Gegenteil, ich arbeite, weil ich den Schutzanzug nicht ertragen kann.
GD Ich denke, dass wir auch in größeren Bunkern leben. Europa ist so ein Bunker. Wir halten Flüchtlinge fern, die versuchen Lebensbedingungen voller Unterdrückung, Unmenschlichkeit und Elend zu entkommen, die wir selbst für sie geschaffen haben, um billige Lebensmittel, Elektronikartikel und Kleidung zu haben. Unsere Normalität basiert auf politischer, ökologischer und sozialer Gewalt. Können wir diesen Zustand und den Teufelskreis der sich wiederholenden Geschichte irgendwie überwinden?
JO Das hoffe ich. Nicht nur, weil wir uns unserer eigenen Menschlichkeit berauben, wenn wir uns selbst, unsere Familien, Gemeinschaften und Menschen, die uns wichtig sind, in Abgrenzung zu der größeren menschlichen Familie definieren, zu der wir gehören. Sondern auch, weil diese Tendenz, die Welt in Gut gegen Böse, Menschen, die meine Empathie verdienen und andere, die sie nicht verdienen, einzuteilen, ein fester Bestandteil des Narzissmus zu pathologisieren, des Egoismus des kapitalistischen Systems, ist, welches unweigerlich, wie uns offenbart wurde, zu unserem Aussterben führen wird. THE END handelt von diesem Isolationismus und dem Verbunkern. Als Geschichtenerzähler können wir Geschichten erzählen, die aus radikaler Solidarität entstehen und zu kollektiven Lösungen ermutigen. Wir werden anfangs zwar einen hohen Preis dafür an den Kinokassen zahlen und es wird schwierig sein, aber wir können versuchen Geschichten zu erzählen, die nicht diesen Schwachsinn verbreiten, dass es da draußen „good guys“ und „bad guys“ gibt und dass unsere Hauptaufgabe als Entertainer darin besteht, dass wir den Zuschauern versichern, dass sie gut sind, denn das nährt die Untätigkeit. Natürlich sollten Filme unterhaltsam sein. Aber wir können den Zuschauern auch dabei helfen sich ihrer eigenen kognitiven Dissonanz bewusst zu werden, indem wir sie sich mit fehlerhaften Figuren identifizieren lassen, die sich selbst belügen. Damit streut man vielleicht Sand ins Getriebe dieses Prozesses, sodass man sich beim nächsten Mal, wenn man sich selbst belügt, vielleicht denkt: „Oh, ich klinge genau wie „Mutter“ in THE END oder ich habe gesehen, wie „Sohn“ genau dasselbe getan hat“.
George MacKay als „Sohn“ und Moses Ingram als „Mädchen“ in THE END. © Mubi/Felix DickinsonGD Vielleicht ist das aber auch der Grund, warum sich einige Zuschauer ertappt oder unwohl fühlen. Wahrscheinlich hast du geteilte Kritiken erwartet. Manche Kritiker bezeichnen den Film als zu monoton oder lang und bemängeln eine fehlende Figurenentwicklung. Sind diese Aspekte und die langen Einstellungen nicht auch eine Anspielung auf das Genre des Slow Cinema? Ist THE END eine Befragung der Geschwindigkeit des gegenwärtigen audiovisuellen und kulturellen Regimes?
JO Nein. Andere Zuschauer spiegeln mir wider, dass sie in jedem Moment des Films ergriffen und untröstlich waren. Wenn Zuschauer einen Film aber als lang oder langsam bezeichnen, dann meinen sie oft eigentlich, dass sie gelangweilt oder nicht in den Bann gezogen waren. Sieht man sich die negativen Kritiken genauer an, kann man aus ihnen schließen, wonach sich diese Zuschauer gesehnt haben: Nach konventioneller Handlung, nach Action, nach Rache, Konfrontation, einem Ausbruch aus dem Bunker, einem Einbruch in den Bunker oder nach einer Art Zombie-Apokalypse-Story. Und das kann ich ihnen nicht verübeln. Das Einzigartige und Neuartige des Films ist aber die Tonalität. Der Humor und die Absurdität befähigen uns dazu unsere eigene Situation zu sehen. Und einigen Zuschauern widerstrebt das. Aufgrund ihrer Seherfahrung und der Prämisse haben sie sich eine „Eat-the-Rich-Satire“ gewünscht, bei der sie sich moralisch überlegen fühlen und mit dem Finger auf Figuren zeigen können, um danach mit einem guten Gefühl nach Hause zu gehen. Ich mag Filme wie TRIANGLE OF SADNESS oder die Serie THE WHITE LOTUS, aber wenn man diese Art von Distanz wahrt, dann wird man bei THE END vielleicht eine Weile über den absurden Humor lachen und hoffen, dass es Satire ist und einen vor der Identifikation rettet, nur ist das eben nicht der Fall. Ich kann immer nur einen Film darüber machen, wie ich die Welt zu einem bestimmten Zeitpunkt sehe. Und ich kann nur einen Film machen für Zuschauer, die in meiner Vorstellung so sind wie ich selbst, und vielleicht andere Perspektiven und Erfahrungen mitbringen, weshalb sie sich eher mit der einen Figur als mit der anderen in meinem Ensemblefilm identifizieren können. Deshalb habe ich die geteilten Kritiken nicht erwartet. Der Filmverleiher auch nicht. Es war eine heftige Überraschung für uns alle. Ich habe es akzeptiert und verstanden, dass es etwas über die Welt aussagt, in der wir leben. Der anonyme, indonesische Co-Regisseur von THE ACT OF KILLING und Joshua Schmidt, der Komponist von THE END, haben mich darauf hingewiesen, dass es Ähnlichkeiten in der Rezeption der beiden Filme gibt: Ersterer hat Indonesien so sehr polarisiert, dass ich Morddrohungen erhalten habe und nicht mehr einreisen kann. In Indonesien wurde der Film also auch nicht von allen geliebt. Aber er hat die Art und Weise, wie das Land über seine Vergangenheit spricht, verändert, weil er die Kultur des Schweigens durchbrochen hat. Letzterer enthält keine Themen, über die nicht schon gesprochen worden wäre, sei es das Klima, oder unsere permanente Abgelenktheit, unsere Selbstlügen und unsere kognitive Dissonanz. THE END beschäftigt jeden einzelnen Zuschauer und jedes kollektive Publikum im Kinosaal auf eine intimere Art und Weise. Der Unterschied besteht darin, dass ich in THE ACT OF KILLING die Kamera auf ein Land auf der anderen Seite der Erde gerichtet habe, was alle US-Amerikaner und Europäer wundervoll fanden. Jetzt habe ich sie aber um 180 Grad herumgedreht und auf uns selbst gerichtet, worüber manche Zuschauer nicht besonders glücklich sind.
GD Vielleicht sagen diese geteilten Kritiken dann weniger über den Film aus, als über den Zustand unserer Welt, den Moment, in dem wir leben, in der Menschen bereitwillig vor bestimmten Dingen die Augen verschließen. Ich will nicht zu pessimistisch klingen, aber welche Hoffnung gibt es für uns, wenn der sogenannte Anführer der freien Welt selbst dabei ist, eine Diktatur zu errichten, wenn er Technologie nutzt, um zu täuschen und zu spalten, wenn er die Wahrheit manipuliert, wenn er öffentliche Räume angreift und niemals eigene Fehler zugibt?
JO Wir befinden uns in einem sehr ernsten Moment. Menschen in Gaza kämpfen unter den Bedingungen eines Genozids ums Überleben, während der Präsident der Vereinigten Staaten unter dem Jubel der israelischen Regierung ein von einer künstlichen Intelligenz generiertes Video veröffentlicht, das zeigt, wie sich ihre Heimat erst in ein Massengrab verwandelt und wie dann auf diesen Leichen eine groteske Vision von Miami Beach in der Wüste entsteht. Wenn Menschen sich da einreden, dass die Dinge sich schon zum Guten wenden werden, wenn sie glauben, dass es wieder Wahlen geben wird und wir die Kontrolle über den Kongress zurückgewinnen können, wodurch langsam wieder Normalität einkehren wird, dann singen sie am Familientisch von THE END „Our Future is Bright”. Jetzt ist die Zeit für echte, ehrliche, postapokalyptische Besinnung. Was verlangt dieser Moment, diese Offenbarung, die sich gerade überall um uns herum abspielt, die Tatsache, dass wir auf das Ende der Demokratie und potentiell auf das Ende der Zivilisation zusteuern, von uns? Es ist sicher mehr als alleine Dinge auf Social Media zu teilen. Wie jede Lösung in der Menschheitsgeschichte erfordert es echtes, kollektives Handeln. Die Überwindung unserer Verlegenheit darüber „cringe“ auszusehen. Es erfordert, dass wir Proteste organisieren, dass wir auf die Straße gehen und uns Bewegungen anschließen, die zivilen Ungehorsam unterstützen, wo dies noch geht. Es erfordert, dass wir für die Meinungs- und Versammlungsfreiheit kämpfen. Es erfordert, dass wir durch immersives Engagement ein Teil der Lösung werden. Es erfordert echten Widerstand. Wenn es jetzt noch Hoffnung gibt, dann liegt sie im Widerstand.
[1] Deleuze, Gilles.
Das Zeit-Bild. Kino 2. Übersetzt von Klaus Englert, 1. Aufl., Suhrkamp, 1991, S. 56f.
THE END von Joshua Oppenheimer ist ab dem 25. Juli 2025 auf MUBI zum Streamen verfügbar.
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