Da kommt der gute Doktorvon Kurt Hofmann In seinem nunmehr dritten Jahr ist es Festivaldirektor Giona A.Nazaro endlich gelungen, den […]
Zum Filmfestival in Locarno 2023Da kommt der gute Doktorvon Kurt HofmannIn seinem nunmehr dritten Jahr ist es Festivaldirektor Giona A.Nazaro endlich gelungen, den eigenen hochgesteckten Erwartungen gerecht zu werden: Locarno 2023 hatte einen hochwertigen Wettbewerb zu bieten, der den Status von Locarno als A-Festival festigte.
Critical Zone. Iran, Deutschland 2023, Regie: Ali Ahmadzadeh
Dass die Wahl der Jury für den »Goldenen Leoparden« auf
Critical Zone des iranischen Regisseurs Ali Ahmadzadeh fiel, ist auf den ersten Blick etwas überraschend, denn
Critical Zone ist zwar ein gelungener, aber keineswegs des beste Film des diesjährigen Wettbewerbs. Betrachtet man allerdings die ungewöhnlich heftigen Proteste der iranischen Behörden gegen dessen Vorführung in Locarno, ergibt sich ein anderes Bild.
Auf vielen Festivals der letzten Jahre wurden iranische Filme mit großteils subtiler, bisweilen sogar heftiger Kritik an den politischen Verhältnissen in diesem Land gezeigt, meist in stillem Einverständnis mit den iranischen Behörden, welche allfällige Preise dann dennoch für sich verbuchen konnten.
Critical Zone ist ein anderer Fall: Von Religion und Unterdrückung ist da keine Rede, staatliche Repression spielt darin keine Rolle. Im Mittelpunkt steht vielmehr der Alltag des Drogendealers Amir, der seine Kund:innen in Teheran versorgt. Zu Beginn des Films ist zu sehen, wie Amir nach einer Grenzfahrt daheim mehrere riesige Pakete auspackt und später liebevoll wie Santa Claus in handliche kleine Schachteln verpackt. Draußen warten sie schon auf ihn, wenn er, angeleitet durch sein GPS, mit seinem Auto die Stadt durchquert: die Pensionist:innen, denen er Haschkeks mitbringt, die Stammkund:innen, die auf härteren Stoff warten, oder auch die besorgte Mutter, die unterwegs zusteigt, ihn als Arzt anspricht und zum Krankenbett ihres süchtigen Sohnes ruft. »Da kommt der gute Doktor!«, verkündet sie ihrem Kind. Und während sie in der Küche Tee zubereitet, hat der auch die entsprechende Medizin für den Filius parat.
Critical Zone ist ein sarkastisches Zerrbild des laut Eigendarstellung fürsorglichen Staates, dessen soziale Leistungen allenfalls mit der Beigabe der religiösen Sedierung denkbar sind. Amir benötigt für seine Profession keine Verschleierung: Jede weiß, wofür er steht. Aber so etwas wie Amir gibt es doch nicht in der iranischen Republik – oder? Eben hier beginnen die Probleme der iranischen Behörden mit
Critical Zone, wenn die Kluft zwischen Selbstbild und Realität sichtbar wird.
Gegen Ende des Films setzt Regisseur Ahmadazeh noch einen weiteren Kontrapunkt: An einer Straßenkreuzung wartet der Teheraner Drogenstrich auf Amir – eine Reihe wird gebildet, nach und nach erhält jeder eine »milde Gabe«, dem Wohltäter wird die Hand geküsst. Strichprostitution: Aber so etwas gibt es doch nicht in der iranischen Republik – oder?
Essential Truth of the Lake. Philippinen 2023, Regie: Lav Diaz
Fünfzehn Jahre nach dem gewaltsamen Tod einer Umweltaktivistin und Künstlerin will der hartnäckige Ermittler Papauran diesen Cold Case aufklären. In einem langen Gespräch mit einem Staatsanwalt diskutiert Papauran zu Beginn von
Essential Truth of the Lake den Unterschied zwischen Recht und Gerechtigkeit, wie sich Formalitäten und Vorwände vor den Aufklärungswillen drängen. Soweit das Programmatische im neuen Film des philippinischen Meisterregisseurs Lav Diaz. Was dann aber passiert, oder vielmehr nicht passiert, entfernt sich zunehmend vom Kriminalistischen und dem üblicherweise in diesem Genre anstehenden Showdown. Denn Papauran hat es nicht eilig. Er lässt sich von den durch ihn zu Befragenden verköstigen und beherbergen, zieht irgendwann dann weiter, ohne Essenzielles erfahren zu haben. Ein Müßiggänger der Ermittlung, der aber möglicherweise, so deutet es Lav Diaz an, ohnedies schon längst alles weiß. Auch Diaz lässt sich, wie immer Zeit, sein kritisch-philosophisches Slow Cinema ist aber diesmal mit viel Ironie gewürzt.
Do not expect too much of the End of the World. Rumänien 2023, Regie: Radu Jude
So ein Titel kann nur dem rumänischen Regisseur Radu Jude einfallen und im Gegensatz zum Weltende waren die Erwartungen in Judes neuen Film (zu Recht) hoch.
Angela fährt durch Bukarest. Sie ist fast rund um die Uhr für ein multinationales Unternehmen tätig, um Unfallopfer für Videos zum Thema »Sicherheit am Arbeitsplatz« zu casten. Deren Perspektive spielt dabei keine Rolle, die Dramaturgie der Aufnahmen folgt den Vorgaben des obersten Konzernchefs mit dem beziehungsreichen Namen Hans Frank. Freilich lohnt sich der Einsatz für Angela kaum – Aufwand und Bezahlung stehen in keinem Verhältnis. Als Kontrast erfindet Angela via Handy auf Instagram die androgyne Kunstfigur Bobitzá, einen, der die Verheißungen des allgegenwärtigen Turbokapitalismus mit unflätigen Kommentaren versieht, eine »Unperson« ohne Marketingwert.
Dem schwarzweißen Alltag von
Do not expect… aus dem Jahr 2023 stellt Radu Jude Sequenzen aus dem 1981 entstandenen Farbfilm
Angela moves on über eine Bukarester Taxifahrerin gegenüber, die sich in einen Fahrgast verliebt. Damals: eine stereotype Geschichte, langsam erzählt, auf Einverständnis setzend. Heute: Angela darf sich »Produktionsassistentin« nennen, wissend, dass die zynische Realität des rastlosen »Immer weiter!« keine Perspektive für sie bereithält.