Ein Leben für die Menschlichkeit - Abbé Pierre (2023)Cannes 2023 SND Films
Ein Leben für die Menschlichkeit - Abbé Pierre (2023) von Frédéric Tellier
Der meditative Biber
Sein bester Freund nannte ihn einen „meditativen Biber“. Das ist eine treffende Bezeichnung für die inneren Spannungen der Persönlichkeit von Abbé Pierre (Benjamin Lavernhe), des „Vaters der Armen“, der in Frankreich für sein soziales Engagement wie ein Nationalheiliger verehrt wird. Einerseits hat der als Henri Grouès geborene Priester, Sohn eines reichen Seidenfabrikanten, wie ein Biber ungeheuer viel aufgebaut, vor allem die weltweit aktive „Emmaus“-Organisation zur Bekämpfung von Obdachlosigkeit und Elend. Andererseits war der kämpferische und charismatische Redner auch jemand, der sich ständig hinterfragt hat und in Selbstzweifeln um den Sinn seiner Bestimmung auf Erden kreiste. Sein bewegtes Leben ist an sich schon filmreif, und tatsächlich gibt es bereits Dokus und Spielfilme über ihn, unter anderem „Winter 54“ (1989) von Denis Amar mit Lambert Wilson als Abbé Pierre. Nun hat Regisseur Frédéric Tellier („Goliath“, 2022) eine umfassende Filmbiografie vorgelegt, die sich über 60 Jahre erstreckt.
Verehrt wie ein Nationalheiliger, bekannt wie ein Popstar: Über den französischen Priester und Sozialaktivisten Abbé Pierre hat Regisseur Frédéric Tellier eine vielschichtige Filmbiographie gedreht. Die Strahlkraft der Person hilft dabei über dramaturgische Schwächen hinweg.
Obwohl Henri Grouès in eine wohlhabende Familie geboren wurde, widmete der Franzose sein gesamtes Leben den Verfolgten und Unterdrückten. Mit 20 Jahren trat er als Mönch dem Kapuziner-Orden bei. Als kurz darauf der zweite Weltkrieg ausbrach, schloss er sich der Resistance an und half Hunderten jüdischer Familien bei der Flucht. Nach Ende des Krieges wurde er Abgeordneter der Nationalversammlung, gründete die weltweit operierende Obdachlosenhilfe „Emmaus“ und avancierte während der Kältewelle 1953 zum nationalen Helden, als seine ergreifende Radioansprache eine Welle der Solidarität auslöste. Henri Grouès lebte tausend Leben. Er prägte die Geschichte unter dem Namen, den er selbst gewählt hatte: Abbé Pierre.