Ein Film über Brasiliens Evangelikalevon Ayse Tekin Der Film von Petra Costa* beleuchtet den anhaltenden politischen Kampf in Brasilien und […]
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Apokalypse in den TropenEin Film über Brasiliens Evangelikalevon Ayse TekinDer Film von Petra Costa* beleuchtet den anhaltenden politischen Kampf in Brasilien und die Hintergründe der Evangelikalen, die in jüngster Zeit in diesem Kampf die Politik des Landes geprägt haben.
Petra Costa sagt im Film: »Es war, als ob wir die gleiche Welt teilten, aber völlig verschiedene Sprachen sprachen.« Diese Worte der brasilianischen Regisseurin fassen nicht nur die aktuelle Situation in ihrem Land zusammen, sondern auch die Form, die die Politik in vielen Teilen der Welt annimmt, in denen die extreme Rechte und der neue Konservatismus auf dem Vormarsch sind. Es treffen nicht nur zwei in ihren politischen Haltungen und Positionen gegensätzliche Gruppen aufeinander: Die Erzählungen der Menschen, die die gleiche Sprache sprechen und die gleiche Religion haben, driften so weit auseinander, dass aus »anderen« Feinde werden. Autoritäre populistische Führer wie Trump und Bolsonaro, die Politik in einen Schaukampf zwischen »Guten« und »Bösen« verwandeln, erklären sich selbst zu »von Gott auserwählten Personen«, die »anderen« sind der Antichrist.
Im Film sind Interviews mit Jair Messias (er heißt wirklich so) Bolsonaro und seinem Unterstützer, dem evangelikalen Prediger Silas Malafaia, zu sehen und zu hören, aber auch solche mit seinem Widersacher Luiz Inácio Lula da Silva und dessen jeweiligen Unterstützer:innen. Die Dokumentation legt offen, wie in Brasilien andauernd eine Schlacht geschlagen wird. Der Konflikt zwischen denen, die ihr Christentum für den Grundpfeiler des Staates halten, und denen, die eine Trennung von Religion und Staat befürworten, spielt eine zentrale Rolle für die aktuelle Dynamik in der brasilianischen Politik, er zeigt aber auch, wohin das führt – auch in anderen Teilen der Welt.
Denn Brasilien erlebt einen der schnellsten religiösen Wandel in der Geschichte der Menschheit. Der Anteil der Evangelikalen an der Bevölkerung ist laut Film in den letzten 40 Jahren von 5 auf 30 Prozent gestiegen. In der Dokumentation ist dieser Prozess, und wie er die brasilianische Demokratie bedroht, im Detail zu beobachten.
Auch die Rolle der katholischen Kirche wird ausgeleuchtet, und zwar, wie sie die Befreiungstheologie, die in dieser Region der Welt einmal für die Hoffnung auf ein gerechteres Leben stand, bekämpft hat. Die Priester der Befreiungstheologie haben damals eher marxistische Ideen verbreitet als die von der Kirche in Rom vorgegebenen: nämlich, dass die Armen nicht aufgrund von Schicksal oder wegen ihrer Sünden arm sind, sondern weil die Gesellschaft so strukturiert ist, dass sie die Privilegierten schützt, indem sie die Armen arm hält.
Die Zuschauenden erfahren, dass tausende Missionare in die tropischen Regionen kamen, um 15 Millionen nichtprotestantische Familien zu bequatschen: 3000 ausländische Missionare, 60.000 brasilianische Pastoren und 3 Millionen protestantische Kirchenmitglieder wurden mobilisiert. Gleichzeitig ging der Vatikan unter Führung von Papst Johannes Paul II. daran, die Befreiungstheologie zum Schweigen zu bringen.
Die Kraft der AlmosenUm diesen Wandel verstehen zu können, zeigt Petra Costa den historischen Prozess auf, der dazu führte, dass die als »Theologie der Armen« bekannte Befreiungstheologie an Schwung verlor und die evangelikale Kirche einen der bekanntesten Slogans der Linken abgewandelt übernahm: »Eine vereinte Kirche wird niemals besiegt!«
Materielle Zuwendungen der Kirche wie Bildungs- und Gesundheitsprogramme, die schnell in den unteren Schichten Verbreitung fanden, wurden mit heiligen Formeln angeboten: Die individuelle Transformation müsse durch die »Taufe des Heiligen Geistes« erfahren werden, damit »Gottes Königreich« errichtet werden könne. Materielle Gewinne von Menschen, die den »Heiligen Geist« erfahren haben, seien Zeichen von »Gottes Gunst«. Sie glauben, dass die durch göttliche Eingriffe gewonnene spirituelle Kraft auch im täglichen Leben Fülle und Wohlstand bringt. Die rasche Verbreitung evangelikaler Kirchen, die in abgelegenen Gebieten und Slums ohne befestigte Wege oder Krankenhäuser soziale Dienste anbieten, ist zweifellos auf diesen Aspekt des »materiellen Gewinns« zurückzuführen.
Bolsonaro kam genau am Ende dieses Prozesses und durch ihn an die Macht. Das war politisch eine rechte Mobilmachung im Mantel der Religion. Während der Wahlen wurden Beiträge verbreitet, die falsche und irreführende Informationen enthielten. Demnach würde Lula, wenn er gewählt würde, Christen verfolgen und Kirchen schließen. Als Lula Gefahr lief, die Wahl zu verlieren, begann auch er ihre Sprache zu sprechen. Er traf sich mit evangelikalen Pastoren. Er versuchte, die Botschaft zu vermitteln: »Lula ist ein Christ, er hat nie eine Kirche geschlossen und wird dies auch nicht tun.« Die göttliche Verbindung hatte so starke Wirkung auf die Wähler:innen, dass der laizistische Politiker Lula im Wahlkampf 2022 auch mit seiner Kirchenmitgliedschaft geworben hat, und im Film behauptet, der Marxismus sei deshalb niedergegangen, weil er den Glauben vernachlässigt hat. Vielleicht glaubt er tatsächlich daran.
*Apokalypse in den Tropen. Dokumentarfilm (auf Netflix). Brasilien 2024. Regie: Petra Costa, 140 Minuten